Heute setze ich die Artikelreihe fort, die ich im März unter dem Titel “Wie Japan mein Leben veränderte” begonnen habe. Letztes Mal ging es Genussmomente, dieses Mal um Respekt.
Schaut man im deutschen Duden unter dem Begriff “Respekt” nach, dann erhält man die folgende Erklärung: auf Anerkennung, Bewunderung beruhende Achtung.
Im Wesentlichen geht es im täglichen Umgang mit seinen Mitmenschen um gegenseitige Anerkennung. In modernen Gesellschaften ist es üblich, dass sich die Menschen spezialisieren und bestimmte Aufgaben erfüllen, damit andere davon profitieren. So entsteht ein effizientes Netzwerk aus Leistungen und Dienstleistungen, welches uns alle mit dem versorgt, was wir benötigen. Menschen arbeiten nicht nur für sich, sondern auch für andere. Ohne unsere Mitmenschen gäbe es bestimmte Aufgaben und die damit verbundenen Arbeitsplätze nicht. Daraus könnte man schließen, dass wir dankbar gegenüber jedem sein können, der unsere Leistung, unsere Arbeit in Anspruch nimmt.
Doch in Europa scheint manchmal das Gegenteil der Fall zu sein. Ich war einmal in einem kleinen Tante-Emma-Laden. Ich sagte “Guten Tag” und bekam als Antwort etwas dahingenuschelt, ohne eines Blickes gewürdigt zu werden. Die ganze Zeit fühlte ich mich beobachtet, als wäre ich eine Störung im Tagesablauf, die schnell wieder verschwinden sollte.
Ähnliche Erfahrungen macht man hier leider häufig und es betrifft alle Teile der Gesellschaft. Bevor ich nach Japan ging, war mir das gar nicht so bewusst. Da ich damit aufgewachsen bin, empfand ich diesen Umgang miteinander zum Teil als normal. Natürlich gibt es auch Gegenbeispiele, die möchte ich nicht verschweigen. Ich bin immer glücklich, wenn ich freundliche Menschen treffe und versuche auch als Kunde, mich respektvoll zu verhalten. Aber genug zu unserer Ausgangssituation in Deutschland.
Vielen Menschen, die das erste Mal nach Japan fliegen, fällt der gegenseitige Umgang dort auf. Ob in Restaurants oder an einem Street Food-Stand, im Bus oder in der Bahn – die Menschen achten einander und behandeln sich gegenseitig mit Respekt. Als ich vor 10 Jahren mit Freunden aus Deutschland unterwegs war, fiel einem von Ihnen auf, dass die Schaffner auch die Schulkinder mit demselben Respekt und derselben Höflichkeit als Fahrgäste behandeln wie die Erwachsenen. Vielleicht liegt darin ein Teil des Geheimnisses verborgen, weswegen die japanische Gesellschaft im Alltag so gut funktioniert. Es gibt Regeln, an die sich normalerweise alle halten und Angestellte versuchen ihre Aufgabe jedem gegenüber bestmöglich zu erfüllen.
Manchmal sind es diese Kleinigkeiten wie das Grüßen, das Bedanken oder Lächeln, die den Unterschied im Alltag ausmachen. Dies schließt auch Berufsgruppen wie den Zoll oder Polizisten ein. Auch das ist mir erst bewusst geworden, als ich nach meinem Auslandsjahr zurückkam und meinen Reisepass bei der Passkontrolle übergab. Ich grüßte nett und lächelte, doch ich bekam nur einen strengen Blick zurück. Der Pass wurde gründlich geprüft und wortlos zurückgegeben. In Japan hört man manchmal ein “Willkommen zurück”, hier reicht es manchmal nicht einmal für ein einfaches “Hallo”.
Als ich an der japanischen Uni studierte, gab es unter den Studenten die weitverbreitete Sitte, Plätze in der Mensa mit Wertgegenständen zu reservieren, ehe sie zur Essensausgabe gingen. Was in Deutschland undenkbar wäre, war dort normal. Der Respekt vor fremdem Eigentum ist äußerst hoch. So hoch, dass man offensichtlich verlorene Dinge manchmal bewusst auf der Straße liegen lässt. Eine alte japanische Frau hat mich mal ermahnt, als ich ein Portemonnaie vom Boden aufhob. Ich wollte es zur Polizei bringen, aber sie sagte, dass wenn ich es liegen ließe, die Person sicherlich später zurückkäme, um den zurückgelegten Weg danach abzusuchen. “Wenn es dann noch da ist”, dachte ich mir still und befolgte ihre Anweisung, dachte mir aber auch, wie schön es doch eigentlich ist, dass dies in Japan so gehandhabt werden kann.
Und auch wenn es zu den Beispielen sicherlich auch Gegenbeispiele gibt, so ist dieser gegenseitige Umgang der Grund, weswegen ich mich in Japan immer so wohl fühle. Ich habe das Gefühl, dass “Gesellschaft” in diesem Land nicht nur bedeutet, eine Ansammlung von Individuen zu sein. Es ist viel mehr als das. Und je mehr man die Spielregeln der Gesellschaft beherzigt, desto einfacher ist es, ein Teil davon zu sein.